Pionierarbeit und Brückenbau in Rumänien

Frau Klemm, Sie sind Flüchtlingsbeauftrage Ihrer Kirche.Gibt es ein Erlebnis, das Sie in Ihrer Arbeit geprägt hat?
Ich hatte im Zuge einer Ausstellung „Ich bin ein Fremder. Fremde in der Bibel“ mit vielen Schulklassen zu tun. Das Thema Fremdsein wurde aufgearbeitet. Um die Schüler abzuholen habe ich gefragt, wer denn Familienangehörige hat, die im Ausland tätig sind. Da ging die Hälfte bis ¾ der Finger hoch. Dann habe ich gefragt warum sie im Ausland sind. Die Antwort kam prompt:  „wegen Geld – aber sie vermissen unser Essen, Kultur und die Familie“. Es hat mich getroffen, dass bereits die Kinder in der 2. Klasse schon verstanden haben, dass viele wegen Geld gehen, es eigentlich aber viel mehr gibt als Geld und sie im Ausland ihre Heimat vermissen. Auch die Lehrer haben mir Feedback gegeben und haben gesagt: Hoppla, wir müssen in der Schule darüber reden. Da habe ich mir vorgenommen, mich zukünftig mehr in diesen Bereich einzubringen.

Welche Tätigkeitsbereiche haben Sie in der Ev. Kirche A.B. in Rumänien?
Es sind zwei Bereiche, in denen ich tätig bin: in der Organisation von Runden Tischen und in der Fortbildungsarbeit zusammen mit Arbeitskreisen und Partnerschaften für Betroffene im Menschenhandel.

In unserer Region sind wir als Pioniere und Brückenbauer – auch wenn wir klein sind - hoch anerkannt. Wenn wir eine Initiative ergreifen, dann kommen auch die Freikirchen und orthodoxen Vertreter mit ins Boot. Sie akzeptieren uns in dieser Rolle als Brückenbauer. Das ist eine etablierte Rolle. Diese habe ich in die Flüchtlingsarbeit übertragen. Hier haben wir zwei Ballungszentren in Temeswar/Timişoara (an der Grenze zu Serbien und Ungarn) und in Bukarest. Sibiu liegt im geographischen Mittelpunkt. Ich habe Runde Tische zur Flüchtlingsarbeit ins Leben gerufen. Da ging es um Vernetzung, Mobilisierung und Sensibilisierung der Kirchen. Jetzt war der erste Runde Tisch für Hilfe für Betroffene von Menschenhandel. Die neuen Runden Tische zum Thema Arbeitsausbeutung /Menschenhandel sind regional, die alten auf nationaler Ebene. Wir laden ein und sind ein neutraler Boden. Wir sind klein, aber wir können etwas anstoßen. Der regionale Runde Tisch soll zweimal im Jahr stattfinden und hat die Aufgabe zu vernetzen. Wir laden alle Kirchen ein. Es soll eine Vernetzung mit Hilfswerken und Behörden geben. Das ist auch ein Stück Pionierarbeit. Es kamen noch nicht viel kirchliche Vertreter, aber Hilfswerke und Behörden haben das Angebot sehr gerne angenommen. Wir wollen Information, Diskussion und Aktion gemeinsam fördern. Es werden Referenten eingeladen, die Rolle der Kirche wird diskutiert und dann kleine gemeinsame Ziele und Projekte angestoßen, damit auch Betroffene profitieren. Dies findet zweimal im Jahr statt. Der Austausch mit anderen stärkt und ermutigt. 
 

Welche Institutionen, Behörden oder Hilfswerke gibt es in Rumänien, die sich mit dem Thema Menschenhandel befassen?
Der Staat hat in Rumänien auf diese Thematik reagiert. Seit über 10 Jahren gibt es die staatliche Behörde „Nationale Agentur im Kampf gegen Menschenhandel“ (kurz ANITP). Es gibt 15 Regionalbehörden im ganzen Land. Jede Behörde besteht aus drei Personen und die sind für drei Landkreise zuständig. Sie behandeln alle konkreten Fälle, die als Menschenhandel identifiziert worden sind. Diese müssen bei ihnen registriert werden und sie helfen, die Betroffenen an Frauenhäuser zu vermitteln. Sie haben auch die Aufgabe, die Statistiken zu überwachen. Das ist also das staatliche Organ. Daneben gibt es Hilfswerke, NGOs, die mit eigenen Geldern und Spenden arbeiten. Einige machen sehr gute Arbeit seit 10 bis 20 Jahren. Leider wurden die größten Frauenhäuser, die eigentlich besonders spezialisiert waren, Frauen aus Zwangsprostitution aufzunehmen, von den Behörden geschlossen.

In Rumänien gibt es also wenig Frauenhäuser, die nur auf diese Fälle spezialisiert sind. Die meisten Frauenhäuser sind für Frauen, die mit ihren Kindern aus häuslicher Gewalt kommen und sie nehmen zusätzlich Frauen aus Zwangsprostitution auf. Die großen hatten bis zu 50 Plätze, die kleinen bis zu 10. Die Dunkelziffer Frauen in Zwangsprostitution geht in die Tausende, eher 100 000 rumänische Frauen und Kinder leiden im Ausland. Ein Problem des Menschenhandels ist die Identifikation der Opfer. Es ist oft so, dass Freunde helfen und Mut machen, dass Hilfe in Anspruch genommen wird. Das Andocken bei Hilfestellen, Kontakt mit Instanzen und Behörden ist der erste und wichtigste Schritt.

Der rumänische Staat hat ein neues Projekt: in allen 42 Landkreisen sollen neue, vom Staat bezahlte, Frauenhäuser auf Sozial- und Jugendamtsebene entstehen. Das ist super gut. Es sollte am 4. März beginnen, aber nur wenige sind in Betrieb gegangen. Ein Schwachpunkt ist die Bürokratie. In Rumänien besteht eine große Angst vor Missbrauch von Sozialgeldern, daher werden unglaublich viele Papiere von den hilfesuchenden Frauen verlangt. Das ist eine große Diskrepanz und Lücke im schönen neuen Projekt, denn wenn es um häusliche Gewalt oder Menschenhandel geht, dann muss man sofort handeln, da kann man nicht warten.

Haben Sie selbst Kontakt zu Frauenhäusern?
Ich arbeite seit sechs Monaten mit verschiedenen Frauenhäusern zusammen. Mal bastle ich etwas mit den Frauen, mal denke ich mit. Das ist gerade noch am Entstehen. Das passiert freiwillig, aber mir ist es wichtig am Boden dabei zu sein, meine dienstlichen Aufgaben sind eigentlich die Konferenzen und Schulungen zu organisieren und zu entwickeln. Ich habe hospitiert und Häuser besucht, auch Häuser für missbrauchte Mädchen. Ich bin eingeladen mit den Betroffenen im kreativen Bereich zu arbeiten.

In Deutschland arbeite mit dem VIZ in Stuttgart und der PBV Psychologische Beratungsstelle für Vertriebene und Flüchtlinge zusammen. Zusammen mit dem Leiter Dieter David, der selbst aus Rumänien kommt, organisiere ich Schulungen. Er ist eine kostbare Brücke.

Es geht weiterhin darum, die Rolle der Kirche herauszuarbeiten. Ich bin davon überzeugt, dass viele Kirchen über Ressourcen verfügen, wo man über einen kurzen Zeitraum Frauen oder Kinder unterbringen kann, bis ein Platz in einem Frauenhaus gefunden ist. Dafür müssen wir Leute ausbilden. Mein Konzept sieht Fortbildungen vor sowohl für hauptamtliche Mitarbeitende von allen Kirchen als auch für Ehrenamtliche. In jeder Kirche sollte mindestens ein Hauptamtlicher und ein Ehrenamtlicher fortgebildet sein in diesem Bereich. Häufig erzählen Betroffene, wenn sie zu ihren Familien heimkehren, nichts von ihren Erlebnissen, aber im seelsorgerlichen Kontext würden sie sich öffnen. Und wenn es in der Gesellschaft mehr bekannt ist, dass es Hilfe gibt, dann ist die Chance größer, dass man helfen kann.
Kirchen haben eine große Rolle in der Identifikation von Betroffenen, bei der temporären Unterkunft und der geistlichen Begleitung und Beratung. Für den Heilungsprozess ist der Glaube und die Kraft und die Gebete ein großer Faktor.
Es geht um Vernetzung und darum, dass Partnerschaften entstehen und aufgebaut werden.

Ist das Ihr Hauptwunsch für die Zukunft Ihrer Arbeit?
Ich wünsche mir, dass Kirchen für ihre Ressourcen sensibilisiert und besser mit Behörden und Institutionen vernetzt werden. Ich bin überzeugt und bete, dass wenn wir mehr Zufluchtsorte schaffen, auch mehr Opfer diese finden und mehr Betroffenen geholfen werden kann.
Das andere ist der Bereich der Prävention. Da sind wir auch dran, wollen helfen, dass es verbessert wird.
Ich arbeite im Hintergrund, mit Schulungen und Konferenzen und der Seelsorge, und nicht direkt mit den Betroffenen. In Predigten arbeite ich verschiedene Bibeltexte auf. Die Bibel ist die Autorität und kann überzeugen. Ich habe Ideen, dass man geistlich und in der Seelsorge auch den Fachkräften hilft. Da kann noch mehr entstehen.

Zum Schluss noch eine inhaltliche Frage. Was bedeutet für Sie Menschenhandel überhaupt?
Aus meiner Sicht, kann man das wie folgt definieren: Menschenhandel besteht dann, wenn zwei Faktoren zusammenkommen. Der eine Faktor ist Gewalt, Zwang und Bedrohung, der andere besteht, wenn es einen finanziellen oder materiellen Profit von einem Händler gibt. Wenn beide Aspekte vorhanden sind, spricht man von Menschenhandel. Es gibt fünf Typen von Menschenhandel:

  1. Arbeitsausbeutung (unsaubere Verträge, zu viel Stunden, falsches Gehalt). So lange es freiwillig geschieht, ist es kein Menschenhandel. In dem Moment, in dem eine Bedrohung, ein Zwang, ein Druck entsteht, ist es ein Fall von Menschenhandel. Es gibt viele Menschen, die Arbeitsausbeutung erleben, aber freiwillig dabei sind. Viele beginnen freiwillig und rutschen dann in einen Zwang. Das ist auch bei der Prostitution häufig so.

Die anderen vier Punkte sind

2.   erzwungene Prostitution, dies ist ganz groß Gruppe,

3.   erzwungene Kriminalität,

4.   erzwungene Bettelei und

5.   Organhandel.

Von den fünf Typen des Menschenhandels ist Zwangsprostitution / Kindesmissbrauch laut Statistik am meisten betroffen.  90% des Menschenhandels sind aus dem Bereich der Zwangsprostitution und 10% aus dem der Arbeitsausbeutung – Europaweit sind die meisten Opfer von Menschenhandel aus Rumänien, und Deutschland und England sind traurige Spitzenreiter der Ausbeutung. 

Zur Person / weitere Informationen:

Erika Klemm ist Flüchtlingsbeauftragte der EKR, einer kleinen, engagierten Kirche mit Gemeinden vorwiegend in Siebenbürgen, die nach der Wende einen riesigen Exodus erlebt hat.

  • gebürtige Hermannstädterin, als Kind mit der Familie 1977 nach Deutschland ausgewandert
  • seit 1999 wieder zurück in Hermannstadt, zunächst als Musiklehrerin am pädagogischen College
  • seit 2007 Leiterin des ökumenischen Gebetsdienstes „Ora et Labora“
  • seit 4 Jahren Flüchtlingsbeauftragte des Bischofsamts der EKR

Die Evangelische Kirche A.B. in Rumänien ist eine kleine Ev. Kirche mit vielen älteren Gemeindemitglieder, die sich mit gesellschaftlichen und politischen Themen auseinander setzt. Zum Beispiel mit den Themen Flucht und Arbeitsmigration. Einerseits gibt es 3000 - 4000 Flüchtlinge in Rumänien, andererseits sind 6-9 Millionen Rumäninnen und Rumänen als Arbeitsemigranten im EU-Ausland. Das ist ein brennendes Thema, Arbeitsemigranten werden ausgebeutet. Rumänien ist  europaweit die Nummer eins als Ursprungsland für Menschenhandel. Auch hier setzt Frau Klemm sich ein. Sie macht gerne Pionierarbeit und entwickelt neue Dinge. Sie sagt: „Es ist ein sehr weites Feld und wichtig zu überlegen: wo ist mein Bereich und wo sind meine Ressourcen, mein Puzzleteil, zu dem ich etwas beitragen kann.“

https://www.evang.ro/einrichtungen-werke/kirchliche-einrichtungen/fluechtlingsarbeit/

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Interview führte Lydia Schwörer, Praktikantin in der Abteilung für Migration und Internationale Diakonie im Herbst 2020.

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