08. August 2019 News

Musik für die Augen – Besuch einer Aufführung des Gehörlosenchores

Durch den Auftritt der Gebärdenchöre aus Stuttgart und Bad Mergentheim auf der Bundesgartenschau in Heilbronn wurde nicht nur gehörlosen Menschen die Teilhabe an einem interaktiven Musikevent ermöglicht: Auch hörende Zuschauer tauchten ein in eine Musik, die mit den Händen gesungen und mit den Augen gehört wird. Bianca Weißinger, Praktikantin in der Pressestelle der Diakonie Württemberg, hat den Chor zum Auftritt begleitet.

Stuttgart, 5. August 2019. Daumen und Zeigefinger der rechten Hand berühren sich und formen ein „O“. Dann bewegen sich beide Hände in einem flachen Halbkreis auseinander, als zögen die Finger einen unsichtbaren Faden in die Breite. Was für die meisten ein unverständliches Fingerzeichen ist, ist für einen Gebärdensprachler ein einfaches „Guten Tag!“. Mit dieser Gebärde und herzlichem Winken werde ich begrüßt, als ich in der Regionalbahn nach Heilbronn mit dem Stuttgarter Gebärdenchor der Gehörlosenseelsorge Württemberg zusammentreffe. Die Mitglieder des Chors sind unter den Freunden und Ehepartnern, die als Zuschauer mitreisen, anhand eines schwarzen T-Shirts zu erkennen. Auf dessen Rücken wird die Zeichnung zweier gebärdender Hände von einem weißen Kasten umrahmt. Die vier schwarzen T-Shirts tragen Steffi, Brigitta, Sieglinde und Christa. Die agilen Seniorinnen treffen sich nun seit 18 Jahren regelmäßig, um gemeinsam zu proben. „Wir treffen uns zweimal im Monat“, gebärdet eine der Chormitglieder, während Gerhard Reider, Diakon im Landes-Gehörlosenpfarramt und Organisator dieses Auftritts, übersetzt. „Wir trinken Kaffee und essen Kuchen, das ist ganz wichtig. Danach üben wir neue Gebärdenlieder und wiederholen ein paar alte“ Geprobt wird vor allem für Chorauftritte in Gehörlosengottesdiensten, die von der Gehörlosenseelsorge Württemberg einmal im Monat an verschiedenen Orten veranstaltet werden. „Die Gehörlosengottesdienste sind nicht nur Gottesdienst, sondern auch Kommunikationsmöglichkeit. Die meisten gehörlosen Menschen leben in einem Umfeld, das nicht gehörlos ist. Bei Gehörlosengottesdiensten sind Gehörlose mit Menschen zusammen, die sie verstehen und mit denen sie sich unterhalten können“, erklärt Gerhard Reider, warum gehörlose Menschen teils weite Strecken für einen Gottesdienst auf sich nehmen.

Während Gehörlosengottesdienste den Austausch gehörloser Menschen untereinander stärken, helfen Aktionen wie der Auftritt der Gebärdenchöre auf der BUGA, die kommunikative Barriere zwischen Gehörlosen und Hörenden abzubauen. Um auch Menschen mit Einschränkung die Chance zu geben, an der Bundesgartenschau teilzuhaben, wurden vom Landesgehörlosenpfarramt Gelder beim Aktionsplan Inklusion beantragt, einer Initiative der Württembergischen Landeskirche und der Diakonie, um die Inklusion von Menschen mit eingeschränkten Teilhabemöglichkeiten systematisch zu fördern. Durch die Förderung durch den Aktionsplan Inklusion wird die Stelle des Inklusionsbeauftragten Karl Reinwald finanziert, der bereits zwei Jahre vor Beginn der BUGA unter dem Motto „BUGA aktiv-inklusiv!“ an Möglichkeiten gearbeitet hat, Menschen mit Behinderung in die Bundesgartenschau miteinzubeziehen – ob beim Catering, an der Kasse, bei Geländeführungen oder inklusiven Veranstaltungen.

Inzwischen führen meine Mitreisenden ein lebhaftes Gespräch über drei Sitzgruppen hinweg. Obwohl der bei befreundeten Gruppen übliche Klang lauten Geschnatters wegfällt, geht eine ansteckende Vitalität von ihnen aus und ihre farbenfrohen Jacken und Schals leuchten gegen das matte Himmelsgrau. Während manche mit stummen Mundbewegungen gebärden, gestikulieren andere mit geschlossenem Mund, aber nachdrücklichem Augenkontakt. All das – die lebendige Gesichtssprache, das Augenfunkeln und die Herzlichkeit im Umgang miteinander – ergänzt sich zu dem ganz besonderen Esprit, den diese Menschen besitzen.

Hinter der Eingangspforte der BUGA erwartet uns eine von breiten Blumenbeeten begrenzte Allee. Mit viel Begeisterung und Neugier entdeckt die Gruppe die vielfältigen Pflanzenarten. Eine der Frauen zeigt aufgeregt auf den dunkelrosa Schirm einer riesigen Hibiskus Blüte, mit den Händen einen Trichter formend. Eine andere steht lachend unter der Sprühwolke eines Rasensprenglers. Ihre Hand bewegt sie über dem Kopf, als streue sei Wassertropfen über sich – die Gebärde für „Dusche“. Da ein Drittel aller Gebärden nicht abstrakt, sondern bildhaft und gegenständlich ist, gelingt die Verständigung zwischen den gebärdenden Menschen und einem Nicht-Gebärdensprachler wie mir überraschend gut. Einmal tritt eine Frau neben mich, zeigt in das Beet und macht eine Bewegung, als mahle sie Pfeffer. Erst verstehe ich nicht. Dann entdecke ich ein grünes Gewächs mit herzförmigen Blättern, das als „Kleiner Zwergpfeffer“ beschildert ist. Ich nicke eifrig und die Frau beginnt fröhlich zu lachen. „Sie müssen ohne Stimme sprechen. Der Mund ist größer, wenn Sie ohne Stimme sprechen. Dann kann ich besser ablesen“ gibt mir ein netter Herr im karierten Hemd als Tipp.

Schließlich erreichen wir den Bühnenpavillon, eine Art hölzernes Windsegel, das sich über den Boden wölbt. In diesem befindet sich eine erhöhte Bühne, vor der sechs lange Sitzreihen aufgebaut sind. Diese füllen sich in der Zeit bis zum Auftritt vollständig. Neben den gehörlosen Zuschauern hat die Neugier auch einige Hörende in den Pavillon gezogen. „Wir haben im Fernsehen gesehen, wie eine Frau bei ihrer Hochzeit einen Song für ihren gehörlosen Papa in Gebärdensprache übersetzt hat“, berichtet ein Ehepaar, „das fanden wir so faszinierend, das mussten wir unbedingt einmal in echt sehen.“

Nach einem kurzen „Soundcheck“, bei dem sich die Chöre auf der Bühne formieren, um einige Zeilen zu gebärden, geht es los. Auf die Begrüßung des Publikums durch Gerhard Reider, der zugleich gebärdet und spricht, folgt ein Auftritt des Chors aus Bad Mergentheim. Die Chormitglieder sorgen mit ihren bunten Krawatten und Halstüchern für  fröhliche Farben auf der Bühne und gebärden drei Lieder, deren Text für die Nicht-Gebärdensprachler verlesen wird. Eines der Stücke nennt sich „Hände“ und selbst einem Nicht-Gebärdensprachler wird anhand der Gebärden deutlich, was Hände tun können: Zerbrechen, schlagen, wehtun, aber auch streicheln, helfen, lieben.

Was die Gebärdenchöre auf der Bühne zeigen, ist „Gebärdenpoesie“. Das ist die Kunst, die Gebärden schön und fließend aussehen zu lassen und diese rhythmisch und synchron gemeinsam zu performen. Die Texte für ihre Lieder komponieren die Chormitglieder selbst, indem sie meist bereits bestehende Liedtexte frei in Gebärden übertragen. Dabei assistiert oft ein Hörender, da es aufgrund der differierenden Grammatik von Schrift- und Gebärdensprache zu Textmissverständnissen kommen kann.

Großen Spaß hat das ganze Publikum bei dem „Stuttgarter Stäffele-Lied“ des Stuttgarter Chors, bei dessen Refrain alle Zuschauer dazu aufgefordert werden, ihre Finger wie kleine Beinchen zu bewegen – „die Stäffele rauf, die Stäffele runter“. In dieser Performance wird am besten die Idee der Veranstaltung deutlich, nämlich auch Hörenden die Welt der Gebärdensprache zu öffnen.

In diesem Sinne kommt mehrmals die Gebärdensprachlehrerin Liane Piesch auf die Bühne. Sie zeigt Gebärden, die das Publikum nachahmen soll, zum Beispiel Gebärden rund um die BUGA wie „Blume“ und „Gartenschau“ oder Begrüßungsgebärden: „Guten Morgen!“, „Herzlich willkommen!“, „Guten Tag!“. Auch gibt sie Hörenden Tipps für die Unterhaltung mit Gehörlosen: „ Damit wir euch verstehen können, müssen wir euch sehen. Stellt euch nicht direkt vor das Fenster, sonst können wir euer Gesicht nicht erkennen, stellt euch ins Licht. Sprecht freundlich und geduldig. Fragt: Habt ihr mich verstanden? Schreibt Dinge einfach auf oder tippt sie in euer Handy. Wir sind nicht ganz anders als ihr.“

Da Gerhard Reider nicht alles, was Liane Piesch gebärdet, übersetzt, ist es für Nicht-Gebärdensprachler teils schwierig, alles zu verstehen. Dadurch können die Hörenden im Publikum gut nachfühlen, wie es Gehörlosen bei herkömmlichen Veranstaltungen ergeht. „So geht es gehörlosen Menschen oft“, sagt Gerhard Reider, „wir sprechen verschiedene Sprachen.“ Umso wichtiger sind Aktionen wie die Veranstaltungsreihe „BUGA Aktiv-inklusiv!“, die auch Menschen mit Einschränkung Zugang zu kulturellen Events gewähren.

Nach rund einer Stunde ist die Vorführung vorbei. Lachend streichen sich einige Bühnenakteure über das Gesicht, als wischten sie sich Schweißperlen von der Stirn: „Jetzt bin ich kaputt“. „Ich wünsche mir, dass es auch nach der BUGA mehr Veranstaltungen für Gehörlose und Hörende zusammen gibt. Endlich hatten auch Hörende Mut, auf uns zuzugehen. Das passiert nicht oft“, berichtet eine der Sängerinnen. „Endlich offene Türen!“, strahlt eine gehörlose Zuschauerin, „es ist toll, wenn wie heute auch hörende Menschen unsere Sprache lernen. Ich wünsche mir mehr barrierefreie Angebote. Heute habe ich endlich alles verstanden. “

Auf der Bundesgartenschau werden entscheidende Schritte getan, um Barrieren für Menschen mit Behinderungen abzubauen. Der Gedanke der Inklusion steckt bereits im Konzept der Stadt Heilbronn, mit der BUGA nicht nur eine Blumenschau, sondern einen neuen, möglichst barrierefreien Stadtteil zu schaffen, der den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung gerecht wird. Der Auftritt der Gebärdenchöre auf der BUGA hat aber nicht nur gezeigt, wie wichtig es ist, Menschen mit Behinderung Türen zu öffnen. Ebenso wichtig ist es, auch als Mensch ohne Behinderung durch Türen zu gehen und so Einblick in die Welt von Menschen zu bekommen, die in ihrem Alltag Einschränkungen hinnehmen müssen. Erst so können beide Welten verschmelzen. Beispielsweise habe ich am Ende des Tages gelernt, mich auf Gebärdensprache zu verabschieden und wünsche der Gruppe einen schönen Tag: Erst forme ich ein kleines „O“ mit Daumen und Zeigefinger. Dann ziehe ich die Luft mit beiden Händen wie einen unsichtbaren Faden in die Breite.