16. April 2015 Pressemitteilung

Ich bin Brückenbauerin zwischen der Welt der Hörenden und der Welt der Gehörlosen

Statement von Roswitha Köble. Beraterin für Hörgeschädigte im Diakonischen Werk Württemberg.

In der Beratungsstelle betreue ich hörgeschädigte Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung Hilfe im Alltag benötigen. Derzeit habe ich viel mit der Beantragung der Kostenübernahme von speziellen Rauchwarnmeldern für hörbehinderte Menschen zu tun. Es geht auch immer wieder um Anträge auf Geld- und Sachleistungen bei Ämtern, Krankenkassen, Rentenversicherungsträgern, um sozialrechtliche Fragestellungen, Sicherung der Unterkunft und natürlich auch um Fragen zur Hörbehinderung. Und es geht um Anliegen, weswegen auch ein hörender Mensch Beratungsstellen aufsucht: etwa Fragen zu Erziehung, Familie, Partnerschaft, finanziellen Schwierigkeiten und persönliche Notlagen.

In der Beziehung zum hörenden Umfeld sind gehörlose Menschen vor allem in der Kommunikation behindert. Untereinander können sie unbehindert in der Gebärdensprache miteinander kommunizieren. Möchte ein gehörloser Mensch eine Beratungsstelle aufsuchen, stößt er unweigerlich auf sprachliche Barrieren. Die konkrete Beratung ist erschwert oder gar unmöglich, denn in der Regel beherrschen Berater in Beratungsstellen, die der Allgemeinheit zugänglich sind, die Gebärdensprache nicht.

Es ist nicht ausreichend, in solchen Fällen einen Gebärdensprachdolmetscher hinzuzuziehen. In diesem Fall müsste der gehörlose Ratsuchende schon genau wissen, was er möchte. Er müsste seine Rechte kennen und rein für die Übersetzung von Gesprochenem eine Unterstützung benötigen. Für unsere Klienten trifft dies in den seltensten Fällen zu. Ein gehörloser Mensch ist nicht gleichzusetzen mit „Mensch minus Gehör“. Das, was wir ganz nebenbei einfach so mitbekommen – Radio und Fernseher laufen im Hintergrund, Menschen in der S-Bahn unterhalten sich, Durchsagen im Bahnhof – all das bekommen Gehörlose oft nicht mit, weil sie nicht hören können. Wenn sie es nicht explizit gelernt haben, wissen sie nicht, wie sich Hörende verhalten und was man tut und was sich nicht geziemt. Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem Land, dessen Sprache Sie nicht sprechen und dessen Kultur Sie nicht kennen. Das ist ein Stück weit vergleichbar mit der Situation der Gehörlosen. Sie erfassen visuell in Bildern. Was in Bildern nicht zur Verfügung steht, ist ihnen ohne die Hilfe anderer oftmals nicht zugänglich.

Wenn Beratung erfolgreich sein soll, muss sie direkt in Deutscher Gebärdensprache (DGS) erfolgen. Je nach Thematik empfinden Hörgeschädigte die Anwesenheit eines Gebärdensprachdolmetschers als störend. Die erfolgreiche Beratung von gehörlosen Menschen basiert auf einer vertrauensvollen Beziehung. Voraussetzung hierfür ist eine gemeinsame Sprache.

Eine Beratung in schriftlicher Form wäre nicht angemessen und birgt die Gefahr von Missverständnissen. Die Gebärdensprache ist ein eigenständiges Sprachsystem, und die geschriebene Sprache stellt für viele gehörlose Menschen eine Fremdsprache dar. Ein Teil unserer Klienten ist von funktionalem Analphabetismus betroffen. Schriftlich vermittelte Informationen können sie nicht erfassen, während sie dieselbe Information verstehen, wenn sie in Gebärdensprache zur Verfügung steht. Es ist sehr individuell, welchen aktiven und passiven Wortschatz ein gehörloser Mensch besitzt. Die oftmals nicht ausreichend entwickelte Schriftsprachkompetenz führt dazu, dass viele Klienten Sachverhalte nicht ausreichend bewerten und einordnen können. Fremdwörter, abstrakte Begriffe und Redewendungen verschärfen dieses Problem.

Auch mir passieren Missverständnisse. Ein Beispiel eines Klienten mit geringer Schriftsprachkompetenz: Er möchte zu mir, begibt sich ins Internet und liest, dass die Beratungsstelle „nicht besetzt“ ist. Ziemlich erstaunt ist er, als er vor verschlossener Türe steht. Der Klient hat verstanden, dass, wenn die Beratungsstelle „nicht besetzt“ ist, niemand im Beratungszimmer sitzt. Der Stuhl ist also „nicht besetzt“ im buchstäblichen Wortsinne. Und dies wiederum bedeutet für den Klienten, dass er in meine Beratung kommen kann.

Als Beraterin für Hörgeschädigte bin ich Brückenbauerin zwischen der Welt der Hörenden und der Welt der Gehörlosen. Ich bin Schnittstelle zwischen zwei Lebenswelten, die durch unterschiedliche Sprachsysteme geprägt sind. Je nach Bedarf berate ich in Deutscher Gebärdensprache (DGS), Lautsprachbegleitenden Gebärden (LBG), in Lautsprache, in taktilen Gebärden oder in Lormen. Wer zu mir kommt, kommt freiwillig. Die Beratung ist neutral und kostenlos. Meine Aufgabe ist es, dem Klienten alle Informationen zu geben, die er benötigt, um weitere Schritte entscheiden zu können. Der Klient ist erwachsen und bleibt für sein Handeln selbst verantwortlich. Meine Rolle ist die der Unterstützerin und des Katalysators, nicht die eines Vormundes oder Richters.

Gemeinsam erarbeiten wir die Fragestellung und suchen nach Strategien zur Lösung des jeweiligen Problems. Der Klient ist an der Gestaltung des Hilfsangebots und des Hilfeprozesses beteiligt. Partizipation durch Mitgestaltung und Mitsprache stärkt die Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit des Klienten. Hier kommt das Konzept des Empowerments zum Tragen, ich arbeite ressourcenorientiert. Mein Ziel und das meiner Kollegin ist es, dass der Klient mit unserer Hilfe selbständig agiert und persönliche Notlagen überwindet.

Damit das gelingen kann, braucht es mehr als die Gebärdensprache. Beratende benötigen Fachwissen über die Sozialisation und über die Lebenszusammenhänge von gehörlosen Menschen. Es bedarf einer Kultursensibilität, wie sie in der psychotherapeutischen Arbeit mit Migranten bereits thematisiert wird. Nahezu alle unsere Klienten haben in Deutschland und in ihren Herkunftsländern bis zum Erwachsenenalter unterschiedliche gehörlosenspezifische Institutionen durchlaufen und waren dabei wegen der Unterbringung im Internat von ihren Familien getrennt. In den Schulen haben sie mühsam das Absehen von den Lippen und Sprechen gelernt. Sie haben jedoch keine Kontrolle über die eigene Stimme.

Nach der Ausbildung in einem Berufsbildungswerk steht der gehörlose Mensch in der Regel vor der Anforderung, sein Leben nun selbständig und in der Gesellschaft der Hörenden zu gestalten. Die Lebensgestaltung bleibt dabei immer begrenzt. Denn wie schon gesagt: Alltägliche Informationen, die hörende Menschen im ständigen Kontakt mit anderen oder über Radio und Fernsehen nebenbei aufnehmen, bleiben dem gehörlosen Menschen verwehrt. Dieses Informationsdefizit, gepaart mit geringer Lesekompetenz, führt viele Klienten zu uns in die Beratungsstelle.

Die Herausforderung für meine Kollegin und mich besteht in der Beratung von gehörlosen Menschen, die  sich in der erworbenen Hilflosigkeit eingerichtet haben. Sowohl im Elternhaus wie auch in der Gehörlosenschule hat man ihnen die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln abgesprochen. Oft benötigt es viel Zeit, Geduld und manchmal auch ganz schön viel Überwindung, den Mut aufzubringen, auch in fortgeschrittenem Alter wenigstens in einem kleinen Lebensbereich Selbständigkeit an der Seite der Beraterin einzuüben. Wenn sie es dann geschafft haben, sind sie überglücklich über die neuen Handlungsspielräume.

Den gehörlosen Menschen ist es ganz wichtig, dass ihr Umfeld sie auf Augenhöhe wahrnimmt. Sie haben ein ganz feines Gespür dafür, wenn jemand sie nicht ernst nimmt. Viele unserer Klienten haben im Laufe ihres Lebens diskriminierende Erfahrungen gemacht, was zu unterschiedlichen Anpassungsschwierigkeiten führen kann.

Etwa 25 Prozent der Klienten haben nicht Deutsch als Muttersprache und sind in einer anderen Kultur aufgewachsen. Sie bringen ihre russische, eritreische oder türkische Kultur und Sprache mit und müssen sich nun im Spagat zwischen mehreren Kulturen, Sprachen und Sprachsystemen zurechtfinden. Gebärdensprache ist von Land zu Land unterschiedlich, wie auch die gesprochene Sprache. Darüber hinaus gibt es Dialekte.