Dr. Gudrun Silberzahn-Jandt schaut frontal in die Kamera und hält ihr Buch vor sich.

Studie zur Kinderverschickung

„Alltag der Verschickungskinder. Drei Erholungsheime der Diakonie (1950-1990)“ heißt das Buch, in dem Dr. Gudrun Silberzahn-Jandt ihre Forschungsergebnisse vorgestellt hat.

Mit diesem Auftrag stellt sich das Diakonische Werk Württemberg seiner Verantwortung:

Das Diakonische Werk Württemberg und seine Mitgliedsorganisationen unterhielten bis Ende der 1980er Jahre Erholungsheime für Kinder, unter anderen das Haus Hubertus in Scheidegg, das Haus Carola in Schönau bei Berchtesgaden und den Bühlhof in Königsfeld.

Gudrun Silberzahn-Jandt erforschte, was die Kinder und Jugendlichen, aber auch die Mitarbeitenden in den drei ausgewählten Heimen erlebten. Anhand umfassender Quellen und mittels Interviews gibt sie Einblick in den Alltag der Erholungseinrichtungen, der durch viele leidvolle, aber auch manche schönen Momente geprägt war.

Die Verschickung galt als Maßnahme zur gesundheitlichen Stabilisierung und Erholung. Verschickte Kinder berichten aber auch von einem Alltag, der von rigiden Regeln, Entwurzelung und Gewalt geprägt war, so Gudrun Silberzahn-Jandt. Kinder zu verletzen, sei zwar nicht das Ziel gewesen, aber man habe es in Kauf genommen. Selbstwirksamkeit hätten die Kinder nur dann erfahren, wenn sie sich um andere kümmerten oder zum Beispiel Essen verschwinden ließen.

In 30 Interviews erfuhr Silberzahn-Jandt „von Leid und Freude, von beschämenden Situationen und angenehmen Momenten“. Die Autorin beschreibt „gewaltermöglichende Strukturen“ wie Personalfluktuation und unqualifizierte Beschäftigte oder die Ausrichtung nach der Funktionalität des Alltags, die das Wohl des einzelnen Kindes wenig im Blick hatten. Wesentlichen Anteil hätten auch externe Akteure, insbesondere die Trägerorganisationen, aber auch entsendende Gesundheitsämter oder Sozial- und Jugendämter. Sie hätten Missstände gekannt und bagatellisiert oder verschwiegen.

Kornelius Knapp, Vorstand Sozialpolitik im Diakonischen Werk Württemberg, sagte zur Motivation für die Studie, man sei den Kindern und Jugendlichen schuldig, „die in unseren Einrichtungen Freude, aber auch Leid erfahren haben“, ihre Geschichte ans Licht zu bringen. Fachlich hält er es für wichtig, aus dem Betrachten der Vergangenheit Klarheit und Gewissheit zu gewinnen. Es brauche Kontrolle und ein Korrektiv zur Machtausübung sowie Prinzipien wie Prävention und Fachlichkeit. Die heutige Jugendhilfe sei „weit entfernt von diesen früheren Standards“, erstellte Schutzkonzepte würden „gelebt“, es werde auf Beteiligung statt Disziplinierung gesetzt.

In einer Gesprächsrunde berichteten ehemalige Verschickungskinder von Essenszwang und der Bestrafung bei nächtlichem Toilettengang. Ihnen habe es gutgetan, dass die Diakonie ihnen durch die Studie half, dieses Kapitel in ihrem Leben anzuschauen. Eine Teilnehmerin, die ihr Anerkennungspraktikum aufgrund der Geschehnisse abgebrochen hatte, sagte: „Mir hat damals niemand geglaubt.“ Daraus müsse man Lehren für die heutige Zeit ziehen.

Dr. Dörte Bester, Direktorin der Karlshöhe Ludwigsburg, die zeitweise Trägerin von Haus Carola war, sagte, dass die Akten an das Landeskirchliche Archiv auch deshalb übergeben worden seien, damit Menschen „ihrem Leben auf die Spur kommen können“. Die Beteiligung von Eltern und Kindern und die Umsetzung von Kinderrechten sei heute selbstverständlich. An die Politik gerichtet betonte sie, dass Kinder- und Jugendhilfe nicht als reiner Kostenfaktor gesehen werden darf, sondern ihre Wirkung zu würdigen ist.

Betroffene machten ihre Erfahrungen im Jahr 2009 öffentlich. In Baden-Württemberg entstand 2020 ein „Runder Tisch Kinderverschickung“ mit Beteiligung von Betroffenen.

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