26. April 2023

Interview zum Kirchberger Symposion „Europa ohne Seele? Was kann Kirche tun?“

Der Geistliche Leiter des Berneuchener Hauses und Michaelsbruder, Pfarrer Dr. Frank Lilie und Sławomir Szenwald, Philologe und Germanist sowie Leiter deutsch-polnischer Projekte in Gorzów Wielkopolski gehören zu den Organisatoren des Symposions und berichten über das Projekt.

Europa ohne Seele? Was kann Kirche tun? Mit diesen Fragen beschäftigt sich vom 16. bis 18. Juni 2023 ein internationales und ökumenisch geprägtes Symposion im Berneuchener Haus Kloster Kirchberg in Sulz am Neckar.

Was brauchen Menschen, um die Herausforderung ihrer Zeit zu bestehen? Diese Frage ist immer wieder neu und zugleich ganz alt. So haben sich schon vor 100 Jahren Verantwortliche aus verschiedenen Strömungen der Jugendbewegung zusammengefunden. Sie trafen sich damals auf dem Gut Berneuchen bei Landsberg an der Warthe, dem heutigen polnischen Barnówko nahe Gorzów Wielkopolski, zu den Berneuchener Konferenzen. Von jenem Gut gibt es nur noch wenige steinerne Überreste. Geblieben ist aber die dort entstandene Berneuchener Bewegung, aus der der Berneuchener Dienst, die Evangelische Michaelsbruderschaft und die Gemeinschaft St. Michael hervorgegangen sind und die heute ihr Geistliches Zentrum im ehemaligen Kloster Kirchberg haben. Wie damals stellen sie sich auch heute der Frage, was für die Gegenwart notwendig ist, wenn man sich als Christen am Anspruch des Evangeliums orientiert. Was braucht es heute, um als Kirche miteinander in Europa die Herausforderungen – wie sie uns im Klimawandel, der Corona-Epidemie, dem neuen europäischen Krieg begegnen – zu bestehen?

Der Geistliche Leiter des Berneuchener Hauses und Michaelsbruder, Pfarrer Dr. Frank Lilie und Sławomir Szenwald, Philologe und Germanist sowie Leiter zahlreicher deutsch-polnischer Kultur- und Bildungsprojekte in Gorzów Wielkopolski gehören zu den Organisatoren des Symposions und berichten über das Projekt.

Die Berneuchener Konferenzen 1923 – Herr Szenwald, ist das ein bekanntes historisches Ereignis in der Region um Gorzów Wielkopolski oder komplett in Vergessenheit geraten?

Sławomir Szenwald: Ich habe den Eindruck, dass die Berneuchener Konferenzen nur ein bisschen regional bekannt sind, und zwar direkt in Barnówko/Berneuchen. In der polnischen Version von Wikipedia gibt es einen kurzen Beitrag über Ruch Barnówecki, also die Berneuchener Bewegung, das sind neun Sätze. Und unter Barnówko steht ein Satz über die Berneuchener Konferenzen. Ich habe einmal mit dem Ortsvorsteher von Barnówko gesprochen und ihn gefragt, ob er weiß, dass hier vor 100 Jahren eine wichtige Konferenz lutheranischer Theologen stattgefunden hat. Er hat kurz geantwortet, dass er es weiß und hat dann weiter über die Restaurierung der Kirche im Ort erzählt. Ich glaube, dass das Thema auch unter Theologen in Polen wenig bekannt ist.

Herr Lilie, wie eng ist die Verbindung der drei Berneuchener Gemeinschaften zum Ursprungsort ihrer Bewegung?

Dr. Frank Lilie: Wir tragen den Ursprung im Namen unseres Hauses, der Berneuchener Dienst benennt sich ebenfalls nach dem kleinen Ort in der damaligen Neumark. Heute erinnert dort nicht mehr viel an das Gutshaus, wo die ersten Konferenzen stattgefunden haben. Ein kleiner Friedhof, einige Häuser, mehr nicht. Immer wieder fahren Geschwister aus den Gemeinschaften dorthin, bei Michaelsfesten wird der Ort besucht. Mir ist wichtig, dass die Verbindung aus der Geschichte in die Gegenwart geholt wird – und zwar sehr bewusst in einem ökumenischen und europäischen Horizont. Der in Württemberg auffällige Name führt immer wieder zu Nachfragen und man kommt ins Gespräch.

Wie kam es zu der Idee, zum 100-jährigen Jubiläum etwas Gemeinsames auf die Beine zu stellen?

Dr. Frank Lilie: Der Gedanke keimte im Gespräch zwischen den polnischen Freunden, Michaelsbrüdern mit Verbindung nach Polen und aufmerksamen Mitarbeiterinnen hier im Berneuchener Haus, die auf das Jubiläum hingewiesen haben.

Sławomir Szenwald: Bevor die Idee entwickelt wurde, hat mich Professor Paweł Leszczyński wegen Barnówko angesprochen. Eine der Aufgaben der Woiwodschaftsbibliothek in Gorzow Wielkopolski – für die ich arbeite – ist die Pflege der Geschichte und Kultur der Region. Barnówko mit der Berneuchener Bewegung passt in den Rahmen unserer Aufgaben. Als Bibliothek wollten wir mehr Informationen über das historische Ereignis sammeln, damit interessierte Bürger mehr in unserer Bibliothek darüber erfahren können. So haben wir Kontakt zu Pastor Herbert Naglatzki (einem Mitglied der Evangelischen Michaelsbruderschaft) gefunden. Nach einiger Zeit bekamen wir ein Päckchen mit Büchern über die Berneuchener Bewegung von Pastor Naglatzki. So ist eine kleine Fachsammlung in unserer Regionalabteilung zu diesem Thema gegründet worden. Professor Paweł Leszczyński (einer der Referenten des Symposions) und ich wurden auf den Kirchberg zur Einführung von Pastor Lillie eingeladen, und so kamen wir in einer Gesprächsrunde auf das Thema der Jubiläumstagung. Wir haben im Berneuchener Haus Kirchberg nicht nur eine große Gastfreundschaft erfahren, sondern sind auch auf reges Interesse gestoßen für einige polnische Beiträge für das Jubiläum.

Das Thema des Symposions lautet „Europa ohne Seele? Was kann Kirche tun?“ Wie ist es entstanden?

Dr. Frank Lilie: Da haben wir den europäischen Horizont gleich im Titel – freilich mit einem provokanten Fragezeichen. Papst Franziskus hat die Behauptung aufgestellt, dass Europa seine Seele verliert, wenn es keinen Bezug mehr zu Gott findet. Davon haben wir uns an- und aufregen lassen: Kann man seine Seele überhaupt verlieren? Was ist die Seele Europas? Wie hilft uns diese Frage bei der Suche nach zukünftigen Gestalten des Miteinanders? Und hat in all dem die Kirche überhaupt eine Rolle? Wir haben mehrere vorbereitende Sitzungen in einem Vorbereitungsgremium abgehalten und sind dann zu diesen Formulierungen gekommen.

Ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschen für dieses Symposion so harmonisch funktioniert?

Dr. Frank Lilie: Im Sommer 2021 kamen drei Besucher aus Polen für einige Tage auf den Kirchberg – und sie schieden als Freunde. So viel Einmütigkeit und gemeinsames Wollen ist nicht selbstverständlich. Wir haben von polnischer Seite gelernt, dass die Geschichte uns auch heute noch angeht – und dass wir sie nicht fürchten müssen, wenn wir uns bewusst machen, in welchem gemeinsamen Horizont wir uns bewegen! Ich bin für das, was wir an Signalen von unseren polnischen Freunden bekommen, sehr dankbar, sie waren schneller und weiser als wir.

Sławomir Szenwald: Auf meinem ganzen beruflichen Weg, es sind übrigens über 30 Jahre, beschäftige ich mich mit der deutsch-polnischen Kommunikation und Verständigung. Das Besondere an dem Projekt im Berneuchener Haus ist u.a. der Punkt, dass dieser Ort ein ganz spezieller ist. Sofort, nach einer fast ganztägigen Reise mit dem Auto, habe ich die besondere Atmosphäre von Kirchberg gespürt. Es geht nicht nur um die Stille aber auch die Menschen, die uns begrüßt haben, denen wir hier begegnet sind. Alle strahlen hier Ruhe und Herzlichkeit aus. Ich glaube, sobald man auf dem Kirchberg ankommt, verändert uns dieser. Ein ganz anderer Punkt ist, dass wir – Prof. Paweł Leszczynski und ich – in einer grenznahen Region Polens leben. Die deutsch-polnische Grenze ist von Gorzów 40 km entfernt. Wir sind oft in Deutschland, vor allem in Cottbus an der Brandenburgische Technische Universität im Rahmen von Erasmus. Wir haben in Cottbus an vielen deutsch-polnischen Jugendprojekten gearbeitet. 

Was erwarten Sie sich vom Symposion und was werden die Teilnehmenden mitnehmen können?

Dr. Frank Lilie: Geschichte ist nie vorüber, sie ist eine Aufgabe für die Zukunft. Ohne die Suche nach Gemeinsamkeiten (Stichwort: Seele!) zerfällt Europa, zerfällt die Kirche, zerfällt unser Zusammenleben immer mehr in Segmente. Darum werden wir uns mit der Historie beschäftigen, dann aber auch mit Beispielen gelingender Kooperation (Taizé, Longo Mai, Erasmusprogramm der EU, St. Egidio), mit der Frage nach der Seele heute und nach der Ökumene. Leitend soll bleiben, ob wir als Kirche (beachten Sie bitte den Singular) hierbei eine Aufgabe haben? Wie sieht es mit unserem Selbstverständnis aus, können wir Momente der Versöhnung beibringen, die relevant sind? Einigkeit ist wichtig, aber von ihr müssen Impulse ausgehen!

Sławomir Szenwald: Ich glaube, jeder wird wahrscheinlich etwas aus der Tagung mitnehmen, was ihn persönlich ansprechen wird, denn die Palette der Themen ist breit, deswegen möchte ich auch sehr persönlich antworten. Ich denke, wir suchen heutzutage nach der Idee vom gemeinsamen Europa. Wir müssen uns immer wieder an die „höheren Werte“ erinnern. Nicht nur Reisefreiheit, der freie Handel, gemeinsame Währung usw. Hier meine ich vor allem, unsere jüdisch-christlich geprägte Kultur, die die Basis unseres Dialogs ist, auch wenn sich viele heute von der Religion distanzieren oder befreien wollen.

Weitere Informationen zur Teilnahme am Symposion „Europa ohne Seele? Was kann Kirche tun?“ finden Sie unter https://www.klosterkirchberg.de/veranstaltungen/symposion-europa-ohne-seele-was-kann-kirche-tun