„Allein hätte ich das nicht überlebt“
Die anonymen Angebote ROSA und NADIA unterstützen junge Migrantinnen, die von Gewalt im Namen falsch verstandener Ehre betroffen sind.
Sommer, Sonne, Reisen: Was bei vielen Menschen Glücksgefühle auslöst, ist für manche jungen Migrantinnen mit Schrecken und Angst verbunden. Sie werden bei einer Reise zu den Verwandten im Ausland mit Zwang verheiratet. Oder sie werden in Deutschland zum Schul- und Ausbildungsende im Sommer zur Ehe gezwungen. In beiden Fällen erleben die jungen Frauen vorher über Jahre hinweg Gewalt im Namen der „Ehre“. Hilfe bieten ihnen in Stuttgart zwei Angebote der Evangelischen Gesellschaft (eva), die in Baden-Württemberg einzigartig sind. Beide begehen dieses Jahr ein Jubiläum: NADIA besteht seit fünf Jahren, ROSA seit vierzig.
Junge Migrantinnen brauchen manchmal rasch eine Zuflucht, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Hier sollten sie aufgefangen werden und anonym leben können. In der anonymen Kurzzeit-Zuflucht NADIA finden Mädchen und junge Frauen von 14 bis 27 Jahren seit Juli 2020 für zwölf Wochen den Ort, den sie dringend benötigen. Ziel ist, gemeinsam mit ihnen neue, geschützte und sichere Perspektiven zu entwickeln.
NADIA hält sechs Plätze vor, die bundesweit belegt werden können: vier der sechs Plätze sind für minderjährige Mädchen und volljährige junge Frauen mit einer Kostenzusage des jeweiligen Jugendamtes vorgesehen; auf zwei Plätzen leben volljährige junge Frauen bis zu 27 Jahren, die ohne Kostenzusage aufgenommen werden können. Diese beiden Notaufnahmeplätze werden vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg aus Landesmitteln finanziert, die der Landtag von Baden-Württemberg beschlossen hat. „Durch die Förderung setzt sich das Land dafür ein, dass Betroffene ein selbstbestimmtes Leben mit vollständiger Teilhabemöglichkeit und frei von Gewalt führen können“, sagt Staatssekretärin Dr. Ute Leidig.
Die beiden Notaufnahmeplätze waren seit der Eröffnung von NADIA durchgehend belegt: 60 junge volljährige Frauen haben dort Schutz gefunden. Immer wieder mussten die Verantwortlichen von NADIA bei Anfragen absagen, weil beide Plätze belegt waren. Der Bedarf steigt: In den vergangenen beiden Jahren war er doppelt so hoch wie in den Vorjahren. „Wir benötigen bei NADIA dringend weitere Notaufnahmeplätze, die kostendeckend finanziert sind“, so Thomas Schneider, der zuständige Abteilungsleiter bei der eva.
Und was passiert nach den zwölf Wochen bei NADIA? Eine mögliche Perspektive für die jungen Frauen könnte eine anonyme Langzeit-Wohngruppe wie ROSA sein. Hier leben junge Frauen, die aus ihren Familien geflüchtet sind. Sie haben Angst um ihr Leben und gehen davon aus, dass nach ihnen in ganz Deutschland gesucht wird. ROSA bietet solchen jungen Migrantinnen in drei unterschiedlich intensiven Phasen sanfte Übergänge in ein selbstbestimmtes Leben.
Bei ROSA leben Migrantinnen wie Perwin (Name verändert). Die heute 23-jährige Jesidin hat schon als Kind erlebt, wie ihr Vater und ihre Brüder Perwins Schwester mit Gewalt einzubläuen versucht haben, wen sie zu heiraten hatte. Einige Male ist diese dabei fast gestorben. Nach ihrem Schulabschluss und einem Freiwilligen Sozialen Jahr sollte auch Perwin verheiratet werden. Die junge Frau hatte nicht einmal die Alternative, nicht zu heiraten, „jede Frau in dieser Kultur muss heiraten – und zwar jemand aus dieser Kultur. Man kommt nicht raus – außer man verschwindet.“ Mit Hilfe des Jugendamts ist Perwin zu ROSA geflüchtet. Inzwischen lebt sie hier seit vier Jahren: „Die hatten es nicht leicht mit mir, aber sie haben mich nie fallen lassen. Allein
hätte ich das nicht überlebt.“
Anonym zu leben, um von der Familie und Bekannten nicht gefunden zu werden – das haben in den vergangenen vierzig Jahren 202 Mädchen und junge Frauen bei ROSA gelernt. „Die Bewohnerinnen der anonymen Langzeit-Wohngruppe bleiben oft ihr Leben lang ohne Kontakt zur Familie“, berichtet Aischa Kartal (Name verändert), die zuständige Bereichsleiterin der eva.