Kinderarmut – Unsere Forderungen und Bewertung des Koalitionsvertrags

Kinder sind die Zukunft einer jeden Gesellschaft. Sie zu schützen und sie zu stärken ist eine gesamtgesellschaftliche Arbeit. Die Politik kann Hilfsangebote fördern und durch gezielte Maßnahmen Rahmenbedingungen schaffen. Durch regionales wie überregionales Engagement werden Kinder, Jugendliche und Ihre Eltern gestützt.

1. Kindergrundsicherung

Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien haben nach wie vor nicht die gleichen Voraussetzungen für Bildung und Teilhabe. Das Bildungs- und Teilhabepaket ist nicht ausreichend. Die Corona-Krise zeigt: problematisch sind nicht nur beengte Wohnverhältnisse. Es fehlt bspw. auch an technischen Voraussetzungen, um den Lernanforderungen zu genügen. Wir fordern, dass das Land sich auf Bundesebene einsetzt für ein existenzsicherndes Grundeinkommen für Kinder, eine Kindergrundsicherung, die Chancengerechtigkeit auf Bildung und Teilhabe garantiert und die Möglichkeit zur eigenen Entfaltung und späteren eigenen Existenzsicherung bietet. Eine Kindergrundsicherung bringt Eltern heraus aus der Bittstellerhaltung und unendlichen Antragsverfahren. Sie bedeutet verlässliche Sicherheit, für die eigenen Kinder gut sorgen zu können. Die Kindergrundsicherung beginnt mit der Anmeldung des Kindes nach der Geburt ohne Erfordernis weiterer Anträge. Für alle Familienleistungen vor Ort fordern wir die Schaffung einer jeweils einzigen Anlaufstelle.

2. Landesgesetz zur Familienförderung

Projekte und Initiativen zur Förderung von Kindern und ihren Familien gibt es in fast allen Regionen von Baden-Württemberg. Allerdings sind die Rahmenbedingungen und die finanziellen Förderungen oftmals nicht ausreichend und wirken daher nur selten systemverändernd. Wir fordern deshalb ein Landesgesetz zur Familienförderung, das die Umsetzung der Rahmenkonzeption Familienbildung Baden-Württemberg und die finanzielle und personelle Ausstattung bei Kommunen und freien Trägern vor Ort sicherstellt.

Präventionsketten und -netzwerke zeigen Wirkung bei der Armutsbekämpfung, wenn sie sich vor Ort solide und verlässlich entwickeln können. Wie die Erfahrungen aus anderen Bundesländern (z.B.  Thüringen) zeigen, ist eine verlässliche Wirkung mit einer verlässlichen Grundlage verbunden. Im Kontext von Prävention und Entlastung sollte auch die Familienerholung mit einbezogen und damit gefördert werden.

3. Sozialraumorientierte (Familien-)Zentren

Der Zugang zu armen, armutsgefährdeten und bildungsfernen Familien ist ein wesentlicher Schlüssel für alle Ansätze der (präventiven) Armutsbekämpfung. Sozialraumorientierte Familienzentren haben sich an vielen Orten entwickelt und bewährt, weil sie niederschwellige und aufsuchenden Zugänge sowie ein breites Spektrum von Angeboten für Familien mit und ohne Migrationshintergrund bieten. In der Regel verfügen sie über keine verlässliche Finanzierung und sind deshalb in ihrer Existenz gefährdet. Wir fordern ein Landesprogramm zum flächendeckenden Ausbau verlässlich finanzierter sozialraumorientierter Familien- und Mütterzentren als Ergänzung zu den Familienzentren an Kitas. Familienzentren bieten neben Beratung und Hilfen auch familienunterstützende oder familienbildungsorientierte Angebote und damit Begegnungsmöglichkeiten und Impulse zur Integration. Damit sind sie innerhalb der Präventionsnetzwerke ein direkter Partner für Familien zur Bewältigung von Armut. Nur mit einer verlässlichen und dauerhaften Finanzierungsstruktur ist eine kontinuierliche Weiterentwicklung präventiver Arbeit gegen Armut im Quartier möglich. Ein Landesprogramm ist erforderlich, um einen flächendeckenden Ausbau sicher zu stellen und dauerhaft zu erhalten.

Gespräch mit Margret Mack vom Familienzentrum Weinstadt zu dieser Forderung:

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Bewertung Koalitionsvertrag 2021-2026

Im Koalitionsvertrag finden viele wichtige Themen der Kinder- und Jugendhilfe und Jugend- und Familienpolitik sowie Forderungen der Diakonie Baden-Württemberg ausdrückliche Berücksichtigung.

Zu begrüßen sind insbesondere die Enquete-Kommission zum Umgang mit den Auswirkungen der Pandemie sowie ein Masterplan gegen Corona-Folgeschäden für junge Menschen und Familien, die Weiterentwicklung des Masterplans Jugend, der Ausbau des landesweiten Ombudsystems, differenzierte Maßnahmen zur Stärkung von Kinder- und Jugendbeteiligung sowie das klare Bekenntnis zu den Förderprogrammen des Landes im Bereich der Jugendsozialarbeit (Mobile Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit an Schulen).

Kinder- und Familienarmut
In Bezug auf die Forderungen der Diakonie zur Kinder- und Familienarmut findet sich der Einsatz für eine Kindergrundsicherung auf Bundesebene sowie eine Familienförderstrategie mit einem Schwerpunkt auf Familienbildung im Koalitionsvertrag wieder. Dabei bleiben die Aussagen zur Familienförderung leider hinter den Forderungen der Diakonie zurück:

  • Die verankerten Aspekte der Vernetzung von Angeboten, die Identifikation von Präventionsketten und das Ziel der Vernetzung von Angeboten sind wichtige erste Schritte. Eine landesweite Familienförderstrategie bedarf jedoch umfassenderer ressortübergreifender Ansätze, die nicht nur den Aspekt der Netzwerke vor Ort berücksichtigen, sondern auch nachhaltige Modelle und Angebote finanziell fördern.
  • Die Finanzierung und der Ausbau der Präventionsnetzwerke ist zwar ein gelingender Ansatz, jedoch nur ein Baustein zur Armutsbewältigung von Kindern und Familien. Zentral ist der Ausbau von niederschwelligen Angeboten zur Stärkung von Familien über Begleitung, Beratung und Begegnung. Dass weiterhin lediglich Familienzentren, die sich aus Kindertageseinrichtungen heraus entwickeln, vom Land bezuschusst werden sollen, ist bedauerlich. Denn auch andere stadtteilbezogene Familien-, Mütter-, Sozialraumzentren leisten einen enormen Beitrag zur Armutsbewältigung für alle Familien im Quartier.
  • Die Stärkung der Familienbildung als zentrales Instrument der Familienförderstrategie ist aus Sicht der Diakonie Baden-Württemberg der richtige Ansatz. Allerdings vermisst die Diakonie die Weiterführung der Umsetzung der Rahmenkonzeption Familienbildung landesweit und die dafür notwendige und nachhaltige Finanzierung.
  • Die Erarbeitung und Umsetzung einer Familienförderstrategie ist also nicht kostenneutral möglich. Anlass zur Sorge gibt dabei insbesondere, dass das Kapitel 6 „Gesundheit und Soziales“ unter den grundsätzlichen Haushaltsvorbehalt gestellt wird (S. 72).

Erfreulich ist, dass auch die Förderung von benachteiligten jungen Menschen im Übergang Schule – Beruf ausdrücklich in den Koalitionsvertrag Eingang gefunden hat:

  • Hier wurde insbesondere die Umsetzung des auch von der Diakonie empfohlenen Modellprogramms Produktionsschulen zugesagt, in das mehrere diakonische Träger ihre Expertise einbringen können.
  • Kritisch zu sehen ist dagegen, dass die Koalitionspartner mit AVdual und Jugendbegleitern vor allem auf Programme setzen, die an (Berufs-)Schulen verankert sind und mit denen gerade die besonders förderbedürftige junge Menschen nicht ausreichend erreicht werden können. Impuls des Landes zum Ausbau von dringend notwendigen Förderangeboten der Jugendhilfe (Jugendsozialarbeit nach § 13 SGB VIII) für benachteiligte junge Menschen im Übergang von der Schule in den Beruf fehlen hingegen.

Kommentierung einzelner Themen, die nicht in den Forderungen der Diakonie Baden-Württemberg enthalten waren:

Kinderschutz und Kinderrechte gewährleisten

Die geplante konsequente Umsetzung der Ergebnisse der Kinderschutz-Kommission ist sehr zu begrüßen.

Jugend- und Kindersozialarbeit

Die Diakonie begrüßt das klare Bekenntnis zu den Förderprogrammen der Jugendsozialarbeit an Schulen sowie Mobile Jugendarbeit und Mobile Kindersozialarbeit. Dabei ist „bedarfsgerecht“ aber zu definieren – derzeit gibt es einen Deckel und ein Stufenmodell der Genehmigung, je nach Haushaltslage. Positiv ist, dass Schulsozialarbeit hier klar als Teil der Jugendsozialarbeit benannt wird (hinsichtlich des neuen § 13a SGB VIII, der eine Verortung außerhalb der Jugendhilfe zulässt). Jedoch sehr positiv zu werten.

Zu bedauern ist, dass keine inhaltlichen Aussagen zur Jugendsozialarbeit gemacht werden und die Handlungsfelder Jugendwohnen, arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit und Jugendmigrationsarbeit gar keine Erwähnung finden.

Ombudschaft in der Jugendhilfe

Die Diakonie begrüßt, dass der Ausbau des landesweiten Ombudssystems verankert ist und dabei die Stärkung der Beteiligungsstrukturen in den Jugendhilfe-Einrichtungen sowie von Selbstvertretungsstrukturen ausdrücklich als Säule verankert ist. Die Diakonie Württemberg bringt ihre Erfahrungen aus ihren Kinder- und Jugendforen und ihrem internen Fachkräfte-Netzwerk „Beteiligung und Beschwerde“ gerne in die Umsetzung ein.

Masterplan Jugend weiterentwickeln

Hier liegt der Schwerpunkt auf Beteiligung, was die Diakonie begrüßt. Der Masterplan muss jedoch die Servicestelle Kinder- und Jugendbeteiligung enthalten, die leider nicht erwähnt ist.

Umsetzung Verwaltungsvorschrift

Diese ist wie gefordert aufgenommen. Zu begrüßen sind insbesondere der Bündnisschutz und die zugesicherte finanzielle und strukturelle Absicherung. Wichtig in der Umsetzung ist, dass die Erhöhung der institutionellen Förderung tatsächlich umgesetzt und nicht zugunsten von Jugendbildung/-erholung „hinten runterfällt“. Die Bewältigung Coronafolgen an dieser Stelle ist sehr zu begrüßen.

Bildungs- und Begegnungsangebote für Jugendliche

Jugendbegleiter-Programm/Berufsorientierung
Eine Stärkung der Angebote zur beruflichen Orientierung ist zu begrüßen. Neben dem Jugendbegleiterprogramm bedarf es hier aber auch eine Stärkung der Angebote der Jugendsozialarbeit (berufliche Orientierung sollte nicht nur Beratung, sondern vor allem auch Ausprobieren beinhalten, damit besser eingeschätzt werden kann, was sich die jungen Menschen zutrauen können).

Die Stärkung der Jugendbildungsstätten ist zu begrüßen, darf sich aber nicht auf die genannten begrenzen. Eine Aufnahme der Jugendbildungsstätte von juki e.V. (Gschwend) in die institutionelle Förderung des Landes (wie seit 2017 beantragt) ist dringend umzusetzen.

Flüchtlingsberatung voranbringen

Jugendmigrationsdienste
Die Jugendmigrationsdienste sind bundesfinanziert. Es ist gut, dass sie vom Land als Teil einer Gesamtstrategie wahrgenommen werden und mit ihren Standards als Orientierung im Rahmen der landesweiten Flüchtlingsberatung dienen.

Clearingstelle „Bleibeperspektive für gut Integrierte“

Aus Sicht der diakonischen Jugendhilfe sind in der Umsetzung auch wichtig: verbindliche Vereinbarung zum Vorgehen bei anstehenden Abschiebungen aus Einrichtungen der Jugendhilfe; dringende Bewertung/Stellungnahme des Jugendamts im Hinblick auf Kinderschutz bei Familienabschiebungen, wenn Eltern/Kinder Hilfe zur Erziehung erhalten.

Bürgerbeteiligung engagiert ausbauen – Kinder und Jugendliche beteiligen

Es ist zu begrüßen, dass das Thema Kinder- und Jugendbeteiligung stark gewichtet und facettenreich abgebildet ist (als Schwerpunkt des Masterplans Jugend, Verankerung in Jugendhilfeausschüssen, in den Formaten der Kinder- und Jugendbeteiligung auf kommunaler Ebene). Aus diakonischer Sicht ist es wichtig, die landesweiten Beteiligungsformen und -ebenen für junge Menschen in einem Landeskonzept Kinder- und Jugendbeteiligung zusammenzufassen und die Servicestelle Kinder- und Jugendbeteiligung als Bindeglied darin vorzusehen.

European Green Deal

Bei der Umsetzung des Green Deal sollte darauf geachtet werden, dass nicht nur Kommunen, Wissenschaft und kleinere und mittlere Unternehmen, sondern insbesondere auch Innovationen und systemrelevante Infrastruktur der Sozialen Arbeit adressiert wird. Die freie Wohlfahrtspflege sollte daher bei den entsprechenden Strukturfonds als Antragsteller (z.B. bezüglich Energiewende, lebenswerte/grüne Quartiere) mitbedacht werden. Außerdem sollte sichergestellt werden, dass die Ziele der Europäischen Säule sozialer Rechte mit der Umsetzung des Green Deal verknüpft werden. Die Verbände der freien Wohlfahrtspflege stehen hier gerne als Gesprächspartner zur Verfügung.