Schritte in Richtung Gerechtigkeit
Afrika-Experte Helmut Hess im Interview
Helmut Hess ist engagiert wie eh und je. Der 74-jährige Schorndorfer war in den 1970er Jahren als Entwicklungshelfer in Ghana tätig. Danach leitete er die Afrika-Arbeit von Brot für die Welt. Doch auch im Ruhestand lassen Hess die Fragen nach internationaler Gerechtigkeit und Solidarität auf der Welt und was wir hierzulande dazu beitragen können nicht los. Ute Dilg hat mit ihm gesprochen.
Herr Hess, Sie haben viele Jahre für Brot für die Welt gearbeitet. „Den Armen Gerechtigkeit“ ist ein Grundsatz der Arbeit der Hilfsorganisation. Was ist damit gemeint?
Brot für die Welt ist eigentlich als Nothilfeorganisation entstanden. Doch in den 1970er und 1980er Jahren wurde immer deutlicher, dass man mit Nothilfe keine langfristigen Veränderungen bewirken kann. Es reicht eben nicht, dass wir hier ein wenig barmherzig sind und dort ein paar Hilfsprojekte verwirklichen. „Den Armen Gerechtigkeit“ bedeutet, dass sich Strukturen ändern müssen, etwa im Welthandel oder in der internationalen Finanzpolitik. Und dafür setzen wir uns ein.
Welche Rolle spielt der Aspekt der Gerechtigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit?
Eine große Rolle. Die Anerkennung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte hat die Entwicklungszusammenarbeit sehr verändert. Projekte werden danach beurteilt, inwieweit sie die Menschen dazu befähigen ihre Rechte einzufordern, also etwa das Recht auf Bildung, auf Wohnen, auf Nahrung oder die Geschlechtergerechtigkeit. Es geht um mehr als nur helfen. Das ist natürlich oft schwerer zu vermitteln als eine Baumpflanzung oder Schulspeisung, aber ich finde diesen Aspekt in der Entwicklungsarbeit sehr wichtig. Es braucht Menschen, die sich für ihre Rechte und für die Rechte anderer einsetzen. Und die sollten wir unterstützen. Das gilt im Großen wie im Kleinen.
Die Themen hierzulande ähneln denen in den Entwicklungsländern doch sehr, wenn man sich die Diskussionen um die wachsende Armut, der Wohnungsnot in den Städten oder der Benachteiligung verschiedener Gruppen im Bildungssystem anschaut.
Es sind die gleichen Themen auf einem anderen Niveau. Wir haben hierzulande mehr Möglichkeiten, Bildungsgerechtigkeit oder wirtschaftliche Gerechtigkeit herzustellen. Das ist in vielen Ländern des Südens nicht der Fall. Und das liegt nicht nur an der Korruption und Misswirtschaft dort, wie immer behauptet. Die derzeitigen Strukturen im Welthandel sind so gestaltet, dass diese Länder keine Chance haben, egal wie hart die Menschen arbeiten. Die westliche Welt gibt die Regeln vor. Ich schätze vieles, was Entwicklungsminister Gerd Müller plant, kritisch ein. Aber er hat verstanden, dass wir mehr für Gerechtigkeit zwischen Nord und Süd tun müssen.
Auch im Ruhestand sind Sie immer noch sehr aktiv in Sachen Gerechtigkeit – engagieren sich also im Kleinen. Wo setzen Sie sich ein?
Meine Frau und ich sind in der Friedensarbeit, in der Fairtrade-Stadt Schorndorf sowie der Partnerschaftsarbeit unserer Kirchengemeinde mit einer Gemeinde in Kenia aktiv. Da haben wir im Grunde ähnliche Ziele wie die großen Organisationen in der Entwicklungszusammenarbeit. Wir wollen solidarisch mit unseren Partnern in Kenia zusammenleben und uns im Rahmen unserer Möglichkeiten auch für mehr Gerechtigkeit engagieren. Das bedeutet, dass wir über die Situation der Menschen in Afrika informieren, dass wir den Zusammenhang zwischen Armut und ungerechten wirtschaftlichen Strukturen aufzeigen, dass wir über das Thema Flucht und Migration reden. Was bedeutet Gerechtigkeit in diesem Zusammenhang? Was bedeutet Frieden? Diese Fragen thematisieren wir hier in unserem lokalen Kontext.
Was kann jeder Einzelne in seinem Umfeld für mehr Gerechtigkeit tun?
Wir haben beispielsweise unseren Kirchengemeinderat davon überzeugt, in das Energiemanagement einzusteigen, um so einen Beitrag zum Klimaschutz und zu mehr Klimagerechtigkeit zu leisten. Schließlich tragen wir mit unserer Lebensweise massiv zum Klimawandel bei. Das sind kleine Schritte in die richtige Richtung. 50 Euro zu spenden für die Armen in Afrika ist ganz einfach, aber das eigene Leben zu ändern, verlangt uns mehr ab. Jeder kann etwas tun, um zu zeigen, wie eine gerechtere Welt aussehen könnte. Und als Christ und Teil dieser Kirche sage ich: Auch unsere Kirche sollte mehr tun für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung und sich im eigenen Umfeld sowie in der politischen Debatte deutlicher positionieren. Ich denke da an Themen wie Klimagerechtigkeit, internationale Wirtschaftsbeziehungen oder Rüstungsexporte.
Machen die Gesellschaften in vielen Ländern derzeit nicht eher Rückschritte? Populismus und Angst vor dem „Fremden“, dem Flüchtling oder dem Muslim sind auch in Deutschland auf dem Vormarsch. Was macht das mit der Gerechtigkeit?
Wir müssen darauf reagieren und aufstehen. In Schorndorf etwa gibt es ein Bündnis gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Christen und Muslime arbeiten da sehr eng zusammen. Kürzlich haben hier in Schorndorf etwa zweitausend Menschen an einer Kundgebung gegen Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Gewalt teilgenommen. Solche Aktionen halte ich für sehr wichtig. Aber man müsste es auch schaffen, mit den Rechten ins Gespräch zu kommen. Das ist natürlich schwierig.
Wie würden Sie den Zusammenhang zwischen internationaler Gerechtigkeit und Solidarität und Flucht beschreiben?
Derzeit wird viel getan, um Flüchtlinge von Europa fern zu halten. Die Menschen leben unter sklavenartigen Bedingungen in libyschen Lagern, verdursten in der Wüste oder ertrinken im Mittelmeer. Leider werden mit staatlichen Geldern bisher nicht Fluchtursachen bekämpft, sondern die Flüchtlinge. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat kürzlich bei der Afrika-Konferenz in Berlin den ägyptischen Präsidenten al-Sisi dafür gelobt, dass über Ägypten keine Flüchtlinge mehr kommen. Man hofiert die Despoten in Nordafrika, Menschenrechte und Solidarität mit den Migranten und den Benachteiligten dieser Welt werden vernachlässigt. Mir ist es wichtig, das hier zu thematisieren und auch zu erklären, dass man Fluchtursachen so nicht bekämpfen kann. Die Menschen brauchen eine Zukunft in ihrem Land.
Wenn Sie im Großen etwas verändern könnten, um die Welt gerechter zu machen, was wäre das?
Ich würde den Welthandel so organisieren, dass alle eine Chance haben. Momentan wird gerade Afrika nur als Markt gesehen, auf dem wir unsere Waren abladen können. Aber das reicht nicht. Afrika braucht einen fairen Zugang zu unseren Märkten. Außerdem wünsche ich mir eine Bundesregierung, die sich für Wohlstand und Gerechtigkeit hierzulande und im internationalen Kontext einsetzt. Die das Instrumentarium nutzt, über das sie verfügt, für mehr Gerechtigkeit nutzt. Deutschland hat Einfluss auf die Politik der Welthandelsorganisation, die Weltbank, die Politik der Europäischen Union. Wir müssen endlich unserer internationalen Verantwortung gerecht werden.